Index de l'article
Mein Aikido mit Nishio Sensei
Von Paul Muller
Nishio Sensei, direkter Schüler von O Sensei Ueshiba Morihei, war ein grosser Meister der Kampfkünste.
Ihm verdanke ich einen beträchtlichen Teil meines heutigen Aikido. Ich begegnete ihm 1986 das erste Mal und folgte seither seinem Unterricht, bis er im Alter von 77 Jahren von uns gegangen ist.
Am 15. März 2005 haben wir einen aussergewöhnlichen Experten der Welt der Kampfkünste verloren. Nishio Sensei war aber auch im zwischenmenschlichen Bereich ein Mann vorzüglichen Charakters: bescheiden, anmutig, äusserst liebenswürdig und sehr intuitiv bezüglich der Einschätzung seines Gegenübers – heute würde man eher sagen: ein psychologisch sehr feinfühliger Mensch. Er wurde von zahlreichen japanischen Kollegen als ein Überbegabter der Kampfkünste eingeschätzt. Er war nicht nur hervorragend im Aikido, sondern auch in der Schwertkunst, dem Iaido. Innerhalb dieser Disziplin genehmigte ihm die Japanische Iaido Föderation, seinen eigenen Stil zu kreieren: das Aikido Toho Iai. Seit langen Jahren war Nishio Sensei 8. Dan im Aikido und 8. Dan im Iaido, aber auch 7. Dan im Karate und 5. Dan im Judo. Er unterrichtete schon zu Lebzeiten des Begründers im Hombu Dojo Aikikai von Tokio, also bereits vor 1969. Auch wunderschöne Kalligraphien hat er uns hinterlassen.
NISHIO Portrait 1994
Sein Aikido
Sein ungewöhnlicher Werdegang hat seinem Aikido-Stil einen sehr dynamischen, natürlichen und effizienten Charakter verliehen. In seinem Aikido gab es eine starke Miteinbeziehung von Atemis jeglicher Art, die mit den Händen oder den Ellbögen ausgeführt wurden, aber auch mit den Füssen oder den Knien: entweder beim Eingang der Bewegung im Moment von Irimi oder von De Ai, oder auch während der Ausführung der Bewegung. So konnte Nishio sagen, dass es in einer Aikido-Bewegung möglich sei, den Kampf entweder sofort beim Eingang der Technik zu beenden, oder aber in vier oder fünf verschiedenen Momenten während des Ablaufs der Technik.
NISHIO Sensei with Tanaka Sensei - 1994
Diese Atemis sollten aber nicht wirklich ausgeführt werden – es sei denn bei absoluter Notwendigkeit. Denn das Prinzip der von Morihei Ueshiba kreierten Disziplin, so ermahnte er, bestehe keineswegs darin, den Gegner zu zerstören, sondern vielmehr darin, ihn leben zu lassen.
Das Schwert
An diese fundamentale Haltung des Mitgefühls erinnerte er auch während seiner Unterweisungen im Iaido (der Ausübung des japanischen Schwertes im Alleingang), womit er das Bild des reuelos tötenden Samurai scharf kritisierte: «Der Weg des Schwertes ist ein Weg der Einsicht ins Universum und der Vereinigung mit diesem; es handelt sich um einen Weg des Erschaffens, in keinem Fall um eine Praxis der Zerstörung.» So übte seine Eigenschaft als Experte des Iaido einen starken Einfluss auf sein ganzes Aikido aus. Er hielt es für unmöglich, das Aikido zu verstehen ohne die intensive Übung in den Waffen Ken und Jo – und vor allem in der edelsten Form, der Übung mit einem echten Schwert, dem Iaido Toho. Die Bezeichnung Aiki Toho Iaïdo bedeutet: «Umsetzung des Prinzips Aiki mit dem Schwert».
Nishio Sensei - 1990
Nishio Sensei hat zwischen 25 und 30 Schwert-Katas entwickelt, die er regelmässig während seiner Aikido-Lehrgänge unterrichtete. Jede Kata ist an eine Aikidobewegung gebunden und gibt sie in einer manchmal erstaunlichen Ähnlichkeit wider. Die genauen Formen seiner Katas entwickelten sich aber unaufhörlich weiter. Sogar seine besten Schüler in Japan hatten Mühe, dem Rhythmus der Neuschöpfungen ihres Senseis zu folgen. Es war im Frühling 2001, während des letzten Lehrgangs, den er in Europa geleitet hatte (in Dänemark), als Nishio Sensei sich endlich dazu bereit erklärte, seinem Iaido Toho eine fixe Form zu geben. Diese definitive Version fasst sich in 15 Katas zusammen. Jede Kata entspricht einer präzis festgelegten Kampfsituation gegen einen oder mehrere Gegner. Manche dieser Formen ähneln denjenigen Formen, die ich im Alter von 20 Jahren mit Ichimura Sensei zu üben die Gelegenheit hatte. Doch die Szenarios sind anders und sie gewährleisten eine fast perfekte Entsprechung mit den klassischen Bewegungen des Aikido.
Nishio Sensei - 1990
In dieser definitiven Version der 15 Katas des Iaido Toho von Nishio Sensei haben einzig die erste und die letzte Kata keinerlei Beziehung zu Aikido-Techniken. Die 13 anderen Katas stimmen hinsichtlich der Schritte und der Armbewegungen in der Nahdistanz eins zu eins mit 13 Aikido-Kihons überein. Für den Aikidoka, der diese Entsprechungen zum ersten Mal entdeckt, ist das eine aussergewöhnliche Einsicht.
Aikido, Jo und Ken
Doch Nishio hat die Vereinigung der Arbeit mit den Waffen und der freihändigen Arbeit noch weiter getrieben. In perfekter Übereinstimmung mit den waffenlosen Aikido-Techniken wie Ai Hanmi Shiho Nage Omote, Ai Hanmi Kotegaeshi Omote und Ura, Gyaku Hanmi Soto Kaiten Nage, Iriminage in mehreren Formen und natürlich Shomen und Yokomen Ikkyo Ura und Omote, sowie Nikyo und Sankyo, hat er Ken-Tai-Ken Kumi Tachis (Zweikämpfe mit festgelegten Szenarios, Bokken gegen Bokken) sowie ihnen entsprechende Jo-Tai-Ken Kumi Tachis (Stock gegen Schwert) entworfen. Zu diesen zwei Formen von mit Waffen ausgeführten klassischen Aikidobewegungen fügte er zwei weitere Formen hinzu:
- Ausführung der Aikidobewegung durch Tori, der einen Jo hält, mit einem Uke, der ihn von blosser Hand zu kontrollieren versucht. Diese Form heisst Jo No Te Biki und erinnert an die Arbeit in Jo Nage, die manchmal «auffordernde Arbeit» (travail en sollicitation) genannt wird. Diese letztere Art zu arbeiten ist freilich in den meisten Stilen nur in der Ausführung von Kokyu Nage bekannt.
- Ausführung der Aikidobewegung durch Tori, der einen Bokken hält, mit einem Uke, der versucht, den Bokken durch das Ergreifen von Toris Handgelenk zu kontrollieren. Diese Form heisst Ken No Te Biki und findet keine Entsprechung in anderen Stilen.
NISHIO Sensei and Tanaka Sensei : Jo tai Ken - 1994
Die Mehrheit der klassischen Aikidobewegungen wurde somit in den folgenden fünf Formen geübt: zuerst in der gewöhnlichen Form mit freien Händen (in Tai Jutsu), dann in der Form Ken – freihändig, dann Jo – freihändig, und schliesslich in Ken Tai Ken und Jo Tai Ken. Die meisten französischen Aikidoka, die sich für Nishios Unterricht interessierten, haben diese neuartigen Ausführungsweisen mit Begeisterung und gleichzeitiger Verwunderung entdeckt, sei es während seiner Lehrgänge, sei es nur schon durch das Schauen der zahlreichen Videokassetten, die es von seinen Aufenthalten in Frankreich gibt. Das Üben dieser Formen ermöglicht tatsächlich eine neue Herangehensweise: Die damit implizierte andere Sichtweise dient als ein Mittel der permanenten Infragestellung. Es handelt sich also um eine Methode, die das eigene Fortschreiten in der Disziplin fördert. Nishio Sensei wiederholte gerne – während seiner Lehrgänge in Europa wie auch in den Dojos, die er in Japan leitete –, dass er es für unmöglich halte, die ursprünglichen Prinzipien des Aikido zu verstehen und es in richtiger Weise freihändig auszuüben, wenn man nicht dazu imstande sei, alle Bewegungen mit den Waffen in diesen fünf Formen wiederzugeben.
NISHIO Sensei and Paul Muller Sensei : Jo tai Ken 1989
Neben den Aspekten der Distanz, der Geschwindigkeit, der Wachsamkeit und der Abstraktion der Vorstellung, die man sich von den Bewegungen macht, sind diese fünf Übungsformen ein wertvolles pädagogisches Werkzeug:
- Das Üben mit dem Schwert gibt Aufschluss über die optimale Orientierung der Hand während der Ausführung der freihändigen Techniken.
- Das Üben mit dem Jo erlaubt es, das Konzept Kokyu Ruoku umzusetzen.
Und vor allem veranschaulichen diese fünf Formen der Arbeit mit Waffen endlich in einer ausgezeichneten Art das zentrale Prinzip des Aikido: Irimi.
Der Werdegang von Nishio Sensei
Nishio Sensei wurde am 5. Dezeber 1927 in Aomori, im Norden Japans, geboren. Seine Anfänge in den Kampfkünsten ab dem Alter von 18 Jahren konzentrierten sich aufs Judo und Karate. Fürs Judo besuchte er das Kodokan-Dojo und mit dem Karate begann er im Dojo von Konishi Yasuhiro Sensei. Aber als Student in Tokio praktizierte er mehrere Stile gleichzeitig: die Hauptstadt im Wiederaufbau bot keine riesige Auswahl an Dojos an, mehrere Sensei teilten sich das gleiche Dojo. Es war im Frühling 1951 (er war also 24 Jahre alt) als er an der Türe des Aikikai klopfte und Schüler von O Sensei Morihei Ueshiba wurde. So verkehrte er mit all denjenigen, die ihren Namen in das who’s who unserer Disziplin einschrieben: mit Tohei Sensei, mit Saito Sensei, zu dem er eine solide freundschaftliche Verbindung bewahrte, mit Osawa Sensei, mit Arikawa Sensei und mit vielen anderen. Es war mit Nakazono Sensei und Yamaguchi Sensei, so hat er mir gesagt, dass er in ganz Japan eine bestimmte Anzahl von Dojos eröffnete. Es war mit Tada Sensei, mit dem er abends nach dem Training den Heimweg bis zur Okubo-Station teilte. Er fand auch Tomiki Sensei wieder, den er im Kodokan kennengelernt hatte. Er teilte ausserdem für eine kurze Zeit Tomiki Senseis kompetitive Vision des Aikido, aber nur hinsichtlich der Ausbildung junger Aikidoka, die in den Gymnasien trainierten. Er sah auch hin und wieder Shioda Sensei, der nur noch an die grossen Anlässe kam. Nishio war nicht Uchi Deshi. Es waren Sunadomari und Arikawa, die zu dieser Zeit in dieser Position waren. Ab den Sechzigerjahren wurde er Instruktor im Aikikai (vgl. den Band 2 von «Traditional Aikido», dem Buch von Saito Sensei). Im Jahr 1955 begann er damit, Iaido und Jodo zu praktizieren. Er widmete sich diesen zwei Disziplinen, um das Aikido besser zu verstehen und es in der von O Sensei angedeuteten Richtung zu entwickeln, der auf die Verwandtschaft seiner freihändigen Kunst mit der Ausübung und dem Weg des Schwertes insistierte. Im Hinblick auf diese ursprüngliche Grundlage des Aikido nahm er sich vor, verschiedene Iaido-Stile zu üben. Er hatte das Glück, dem Unterricht einiger hoher Sensei mit 9. oder 10. Dan folgen zu können, wie zum Beispiel Shigenori Sano Sensei. Und im Jodo folgte er dem Unterricht von Shimizu Takaji im Shindo Muso Ryu Dojo.
NISHIO Sensei and Tanaka Sensei : Jo tai Ken 1994
Was das Aikido betrifft, entschied er sich nach dem Tod von O Sensei dazu, seinen Unterricht im Aikikai einzustellen. Er behielt aber gute Beziehungen mit dem Stammhaus und blieb in enger Verbindung mit dem zweiten Doshu, Kishomaru Ueshiba. Er war Teil des Komitees der Hochgradierten des Aikikai und behielt weiterhin seinen Sitz in diesem Komitee, das aus acht Shihan bestand, die zu den erfahrensten und meist respektierten des Aikido gehörten. Aikido und Iaido unterrichtete er nicht nur in einem einzigen Dojo, sondern er gab reguläre Kurse in vier Dojos, die im Norden Tokios und in Yokohama lagen. Zudem gab er Lehrgänge in zahlreichen Städten Japans, aber auch in Europa, in den USA und in Mexiko. Wenn man seinen Lebenslauf liest, könnte man meinen, dass er ein professioneller Kampfkünstler war. Doch dem war nicht so. Er war Halb-Profi. Er hatte eine Stelle als Beamter im Finanzministerium inne, in einem Bereich, der mit der Qualitätsüberprüfung des Banknotenausdrucks zu tun hatte. Aber gleich bei seinem ersten Besuch in Frankreich, in Begleitung von Shigeru Susuki (6. Dan), haben wir von jenem erfahren, dass Nishio, unter Berücksichtigung seiner Bekanntheit im Aikido und im Iaido, nicht zu einer regelmässigen Anwesenheit an seinem Arbeitsplatz gezwungen war. Er konnte tatsächlich sehr frei über seine Zeit verfügen, ohne seine Stellung als Beamter zu verlieren ... In gewissem Sinne war er für die Kampfkünste freigestellt.
NISHIO Sensei and Paul Muller Sensei : Kote Gaeshi - 1994 - Strasbourg
Meine Begegnung mit Nishio Sensei
Der Kontext
Seit meinen Anfängen im Aikido im Mai 1963, hatte ich das Glück, von hochrangigen japanischen Meistern lernen zu können: zuerst von Nakazono Sensei und Noro Sensei, und dann, seit seiner Ankunft in Frankreich im Jahr 1964, von Tamura Sensei. Diese drei Meister, alle drei in Frankreich wohnend, arbeiteten eng zusammen, sowohl in Frankreich wie auch in ganz Europa. Ab 1965 distanzierte sich Noro und verliess zugleich den Aikikai von Tokio, er blieb aber auf sehr gutem Fuss mit Nakazono Sensei und Tamura Sensei. Es waren die letzteren beiden, die mir im Jahr 1966 den Sho Dan Aikikai und im Jahr 1971 den San Dan Aikikai gemeinsam verliehen haben. Im Jahr 1972 wanderte Nakazono in die USA aus, nach Santa Fe (New Mexico), wo es für ihn einfacher als in Frankreich war, eine Klinik für traditionelle Medizin (Akupunktur, Shiatsu, etc.) zu gründen. Dieser Weggang erlaubte es ihm auch, die Lehre des Kototama (Lehre der ursprünglichen Töne) und des Ko Shinto (des frühen Shinto) besser zu entwickeln. (Später haben seine zwei Söhne sein Werk und seine Lehre fortgesetzt.) Infolge von Nakazono Senseis Weggang aus Frankreich, und weil das Aikido zu dieser Zeit in Frankreich ein aussergewöhnliches Hoch erlebte (die Anzahl eingeschriebener Aikidokas nahm jährlich zwischen 15 und 20 % zu), bat Tamura Sensei im Jahr 1973 Chiba Sensei, der in London lebte, um Hilfe. Auch forderte er all seine hochgradierten Schüler dazu auf, den Lehrgängen von Chiba Sensei zu folgen – was ich tat. Es war das Goldene Zeitalter des französischen Aikido, das bis ins Jahr 1982 anhielt.
Im Juni 1982 erfolgte eine Spaltung des französischen Aikido durch den Austritt Tamura Senseis aus dem damaligen offiziellen Verband (UNA-FFJDA). Dies geschah entgegen den Ratschlägen der meisten seiner langjährigsten Schüler. Wir waren uns zwar darüber einig, den Judoverband (FFJDA) zu verlassen, aber nicht zu den Bedingungen, die einer unter uns (Pierre C.) vorschlug, der einen grossen Einfluss auf Tamura Sensei ausübte. Ein Jahr später, 1983, fanden auch die 60 % der Aikidoka, die bei der UNA-FFJDA geblieben waren, ihre Autonomie, indem sie die FFJDA verliessen, aber diesmal in vollem Einvernehmen mit ihr. Das war die Geburt der FFAAA, der »Fédération Française d’Aïkido, Aïkibudo et Affinitaires«. Der französische Verband, in dem Tamura Sensei (1933-2010) seit 1982 unterrichtete, existiert noch heute, es ist die FFAB, die »Fédération Française d’Aïkido et de Budo«. Die FFAAA hatte nun eine ganz neue Eigentümlichkeit: Es gab keine Präsenz eines japanischen Meisters, weder innerhalb, noch ausserhalb der Landesgrenzen, der dem Verband angebunden gewesen wäre. Alle ehemaligen Schüler der drei Meister, die das französische Aikido geprägt haben (Noro Sensei, Nakazono Sensei und Tamura Sensei), wir fanden uns zum ersten Mal in einer Struktur ohne japanischen Sensei wieder. In der Zwischenzeit hatte auch Chiba Sensei Europa verlassen, um nach Japan zu gehen, bevor er sich anfangs der Achtzigerjahre endgültig in San Diego (Kalifornien) niederliess. So war ich ab 1982 ohne Sensei. Und es war aus diesem Beweggrund, dass ich meine Reise nach Tokio unternahm.
NISHIO Sensei and TANAKA Sensei - 1994
Der Auslöser
Im Jahr 1985 schickte mir Stanley Pranin, Chefredakteur des Magazins Aiki News, um sich bei mir für einen Gefallen zu bedanken, eine Videokassette der »All Japan Aikido Demonstration« von 1983. Es waren auf dieser Kassette Vorführungen von Senseis wie Sunadomari, Arikawa und Kuroiwa (der ursprünglich Boxer und Spezialist des Kurzstocks war). Ich hatte schon Gelegenheit gehabt, diese Persönlichkeiten an den Abenden der Lehrgänge von Annecy (vierwöchige Lehrgänge im Juli und August von 1963 bis 1972) auf Achtmillimeterfilmen zu sehen. Aber es war auf dem Videofilm von Stan, auf dem ich diesen ausserordentlichen Mann entdeckte: blitzschnell in der Vorführung, äusserst spektakulär durch seine Geschwindigkeit und seine Präzision: Nishio Sensei. Zudem fügte er der freihändigen Arbeit eine Arbeit mit Waffen hinzu, die sehr ganzheitlich ist: die Bewegungen in den oben erläuterten fünf Formen. Und die Vorführung endete mit Iai-Katas. Diese Einheitlichkeit des Stils, mit der Geschwindigkeit, der Brillanz, der extremen Reinheit der Bewegungen, verbunden mit der intensiven Arbeit der Waffen, erinnerte mich an einige meiner früheren Senseis. Das hier war der Meister, den ich gesucht hatte!
Nishio Sensei - 1994
Es war im Jahr 1986, während meines ersten Aufenthaltes in Japan, dass ich dank Stanley Pranin mit ihm in Kontakt treten konnte. Es war nämlich nicht möglich, sich einfach unvermittelt in einem seiner Dojos vorzustellen. Stan organisierte ein Treffen mit einem seiner 6.-Dan-Assistenten im Lokal von Aiki News in Tokio. Nachdem die Bekanntmachung hinter uns lag, wurde ein Termin für einen Kurs im grossen Staatsdojo von Yokohama vereinbart, wo Nishio Sensei einmal die Woche unterrichtete.
NISHIO Sensei and Paul Muller - 1994
Der erste Kurs.
Nishio Sensei empfing uns – meinen Freund Max und mich – sehr herzlich. Das Dojo war riesig: 700 bis 800 Quadratmeter oder sogar noch mehr, und als Kamisa diente eine enorme Japanflagge. Was für eine Enthüllung für meinen Freund und mich! Zu dieser Zeit waren wir beide Träger des 5. Dan mit 23 Jahren Erfahrung im Aikido und weit davon entfernt, ungeübt zu sein. Doch die vorgeschlagenen Übungsformen erschienen uns völlig neu, obwohl es sich um klassische Bewegungen handelte. Ich erinnere mich an diesen Kurs und diesen Abend, als ob es gestern gewesen wäre! Die erste Bewegung, die wir übten, war Ai Hanmi Katatedori Ude Kime Nage: Jede Vorwärtsbewegung des Armes meines »Partners«, um den Ellbogen anzugreifen, war ein Appell zur Wachsamkeit, denn seine Hand schoss nach dem Durchgang unter dem Arm direkt auf die Kehle zu. Dann kam Shiho Nage dran und danach Nikyo. Nach dem Kursende, im Restaurant, wagte ich Nishio zu fragen, ob er es eventuell akzeptieren würde, auf Einladung meines Verbands, der FFAAA, nach Frankreich zu kommen. Die Antwort war positiv. Er verlangte nur eines: mindestens einen Assistenten mitbringen zu können. Das war durch die Komplexität seiner Arbeit mit den Waffen völlig gerechtfertigt. Es waren nämlich mehr als zwei Jahre Übung mit den Waffen in seinem Stil nötig, bevor man ihm in diesem Bereich als Uke dienen konnte.
Nishio Sensei and Suzuki Sensei : Jo tai Ken - 1990
Seine Lehrgänge in Frankreich
Unvorhergesehene Widerstände innerhalb meines Verbandes haben dazu geführt, dass ich Nishio Sensei erst im Frühjahr 1989 zum ersten Mal nach Frankreich einladen konnte. Hinsichtlich der Bekanntheit und der Ausstrahlung dieses Sensei, erschien es mir angebrachter, ihn über meinen Verband einzuladen, statt im Rahmen eines privaten Lehrgangs. Dies um so mehr, als er zum Komitee der Hochgradierten des Aikikai gehörte.
NISHIO Sensei and Paul Muller : Kokyu - 1994
Nishio Sensei hat im Gesamten zwölf Lehrgänge in Frankreich geleitet, vom Frühling 1989 bis zum Herbst 2000. Er kam jedesmal in Begleitung eines Assistenten. Sehr oft war dies Shigeru Suzuki San, aber auch Mitsuru Wakabaiashi San, Tanaka San, Shokoo Watanabe San und zweimal (1991 und 2000) Kooji Yoshida San. Alle seine Assistenten hatten das gleiche Profil: 5. oder 6. Dan im Aikido und dasselbe Niveau im Iaido Toho und im Karate. Ab dem dritten Jahr waren wir ziemlich vertraut mit den Waffenbewegungen, so dass er seine Ukes auch unter den Franzosen und anderen anwesenden Europäern wählte. Ab 1996 nahm ich wieder meine regelmässigen Besuche Japans auf, um einerseits tagsüber den Kursen im Aikikai Hombu Dojo in Tokio zu folgen und andererseits abends den Kursen von Nishio Sensei an den drei oder vier Abenden pro Woche, an denen er nicht allzu weit weg, in Walabi (Saitama) oder Yokohama, unterrichtete. So kam es, dass ich im 2004 seinen Kursen sowohl im Frühling wie auch im Sommer folgen konnte. Aber bei meinem dritten Aufenthalt im Herbst desselben Jahres für den Kongress der FIA, konnte ich ihn nicht wiedersehen; er war gerade ins Spital eingeliefert worden. Seit drei oder vier Jahren kämpfte er gegen die Krankheit, und trotzdem unterrichtete er weiterhin in seinen Dojos in Japan. Er hatte lediglich darauf verzichtet, sich für seine grossen Lehrgänge nach Europa und in die USA zu versetzen.
Anekdoten
Der Vollkornreis
Nishio Sensei war ein Mann von grosser Bescheidenheit und einer aussergewöhnlichen Liebenswürdigkeit. Das Einzige, worauf er Ansprüche hegte, waren seine Ruhezeiten – sein Mittagsschlaf und die Essenszeit abends im Restaurant – und einfache Mahlzeiten ohne zuviel Schnickschnack. Beispielsweise bevorzugte er Pizzerias, denn er konnte damit rechnen, dort mit Sicherheit Teigwarengerichte zu finden. Bei einer der ersten Einladungen zu mir nach Hause hatte ich mich für ein Gericht mit Reis entschieden. Aber Nishios enge Beziehung zu Nakazono Sensei liess mich zögern zwischen weissem Reis und Vollkornreis, denn Nakazono hatte ausschliesslich Vollkornreis gegessen. Im Zweifel entschied ich mich schliesslich für weissen Reis. Um seine Vorlieben herauszufinden, sprachen wir später während der Mahlzeit über die makrobiotische Zen-Ernährung, wie sie Nakazono Sensei propagierte. Nishio erwiderte: «Ja, ich erinnere mich an diesen Tick Nakazonos mit dem Vollkornreis, sogar der Hund musste davon essen!» Üblicherweise wähle ich Vollkornreis, wenn ich die Gelegenheit habe. Aber an jenem Tag war der weisse Reis die richtige Wahl!
NISHIO Sensei and Paul Muller Sensei - 2002 - in Strasbourg (left) and Warabi-Saitama-Tokyo (right)
Der leicht erfüllte Wunsch
Ab dem fünften oder sechsten Besuch fielen Nishio Senseis Aufenthalte in Frankreich in die Ferienzeit der Allerheiligen (14 Tage Ende Oktober). Der Ablauf hatte sich sehr schnell eingependelt: Ankunft am Mittwoch oder Donnerstag im Elsass, am ersten Wochenende ein Lehrgang in Strassburg, dann ein Wochenlehrgang in einem CREPS (Sportzentrum) in Südfrankreich, in Aix oder Boulouris, und schliesslich zwei oder drei Tage in Paris vor der Rückkehr nach Tokio. Nishio verlangte, dass pro Tag vier Stunden Aikido gewährleistet würden und zu diesen vier Stunden kam zum Morgenkurs eine Stunde Iaido Toho dazu. Ab dem fünften Aufenthalt hatte dieser Ablauf einen Beginn des ersten Samstagkurses in Strassburg um 8:30 Uhr zur Folge. Und die gleichen Anfangszeiten waren für Sonntag und die Woche im CREPS von Boulouris vorgesehen. Am Samstagmittag fragte er uns, ob es nicht möglich wäre, den Zeitplan zu ändern und eine Stunde später zu beginnen. Gleichzeitig äusserte er aber seine Befürchtung, dass eine Änderung des Zeitplans die ganze Organisation des Lehrgangs ins Wanken bringen könnte, da die Zeiten schon überall angekündigt worden waren. Nach ein paar Minuten des Nachdenkens konnten Robert Hanns und ich ihn erleichtern: Sein Wunsch werde ab dem nächsten Tag in Erfüllung gehen, er werde eine Stunde länger schlafen können, ohne dass in irgendeiner Weise der vorgesehene Zeitplan geändert werden müsse... Nishio Sensei zeigte sich sichtlich verwundert. Die Lösung war ganz einfach: In dieser Nacht wurde in ganz Europa die Sommerzeit um eine Stunde auf die Winterzeit zurückgestellt! Ein Prozedere, das in Japan unbekannt ist.
NISHIO Sensei and TANAKA Sensei : NIKYO - 1994
Kein Philosoph, aber sehr Zen
Wie Nakazono Sensei, ging Nishio Sensei spielend mit Paradoxen um. Seine gesamte Ausführung des Aikido bewies die Effektivität und die Gefährlichkeit der Techniken und Atemis, die er zu üben vorschlug. Auf den Matten erzeugte Nishio den Eindruck von Energie im Reinzustand. Explosionsartig führte er Bewegungen aus und erschien dem Uke als eine permanente Bedrohung. Gleichzeitig sprach er von O Senseis Botschaft der universellen Liebe, vom notwendigen Mitgefühl, das man demjenigen gegenüber ausdrücken solle, der die Schwäche hat, einen anzugreifen usw. Und als Mensch war er die Verkörperung von Liebenswürdigkeit und Einfachheit. Über die philosophischen Prinzipien befragt, die seinem Unterricht zu Grunde lägen, hat er immer wieder geantwortet, dass er sich kaum etwas dazu überlege. Er sah sich weit entfernt von einem Denksystem oder einer Metaphysik wie dem Kototama, das Nakazono lehrte und als fundamental fürs Aikido erachtete. Dennoch fiel ein Begriff sehr oft in seinen Gesprächen: »sono-mama«, was sich mit »so wie es ist« oder »genau so (ist es)« übersetzen lässt.
NISHIO Sensei and Tanaka Sensei : Ken tai Ken 1994
Dieser Begriff bringt eine grundlegend natürliche oder zum ‚Natürlichen’ tendierende Haltung zum Ausdruck. Es handelt sich um einen Begriff des Zen. »Ein Mensch hat keine Vorstellung jenseits dessen, was er weiss, und dessen, was er sieht.« Die Ausführung des Aikido scheint auf ein Ziel hin zu streben. Es ist aber gerade die Abwesenheit eines Ziels, die man erreichen sollte. Doch die Suche nach der Abwesenheit eines Ziels ist wiederum ein Ziel ! Daher diese zutiefst Zen-artige Haltung, die die Einfachheit, das Natürliche, das Gewöhnliche verkörpert. Einfach menschlich – so war Nishio Sensei.
Er hätte jene berühmten Gedichte aus 17 Silben schreiben können, die im Japan des 17. Jahrhunderts in aller Munde waren: die Haiku. Sie wurden von den Samurais genauso geschätzt, wie von den Mönchen, den Bauern und den Handwerkern. Basho (1643-1694) hat zahlreiche Haikus geschrieben, die bis heute berühmt geblieben sind. Eines von ihnen könnte diesen Text ausklingen lassen:
Wie bewundernswert ist doch,
Wer nicht denkt: „Das Leben ist vergänglich“
Wenn er einen Blitz sieht.
Paul Muller, 7. Dan Aikido, 5. Dan Iaido Toho
- << Précédent
- Suivant